Mein Freund Günther Lorenz hat mich gefragt, ob ich ihm nicht ein soziales Unternehmen in Italien zeigen könnte, von dem er etwas für seinen Stadtteilbetrieb in Hohenstücken lernen könnte und so habe ich ihm von der sozialen Genossenschaft Cadore SCS erzählt. Die Genossenschaft liegt in der gleichnamigen Region Cadore, über die es hier auf diesem Blog viele Geschichten zu entdecken gibt.
Die folgende Geschichte richtet sich aber besonders an alle, die etwas über das soziale Unternehmertum im Cadore erfahren möchten, z.B. als Anregung für eigene Projekte oder einfach nur zum Staunen, wie andernorts mit sozialen Herausforderungen umgegangen wird.
Die Genossenschaft Cadore SCS - ein Multistakeholder-Modell der sozialen Innovation in den Bergen
Aber der Reihe nach: Günther Lorenz ist Projekkoordinator bei Technet-Berlin und hat zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern aus Hohenstücken über den Verein Arbeiten und Wohlfühlen in Hohenstücken e.V. die Serviceagentur Miteinander als Stadtteilbetrieb gegründet. Hohenstücken ist ein Stadteil von Brandenburg an der Havel und gilt „..als sozial benachteiligter Stadtteil, der mit verschiedenen Problemlagen zu kämpfen hat. Die Arbeitslosigkeit ist mit einer Quote von 22 Prozent die mit Abstand höchste in Brandenburg. Der Anteil der Personen, die in Bedarfsgemeinschaften nach dem SGB II (unter 65 Jahren) leben, liegt bei 46,8 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie in der Gesamtstadt. Seit der Wiedervereinigung leidet Hohenstücken unter gravierendem Bevölkerungsschwund und die Bewohnerschaft altert stark.“ [1]

Bevor wir uns also ins Cadore aufmachen, besuche ich die Dienstleisungsagentur Miteinander in Hohenstücken und lerne bei einem Workshop ihre sozialen Akteure kennen. Entgegen den Schöner-Wohnen-Bildern auf den Seiten der Stadt Brandenburg sehe ich bei der Ankunft in Hohenstücken verlassene und vernachlässigte Plattenbausiedlungen.
Die Plattenbauten in Hohenstücken zeichnen sich durch einen hohen Leerstand und eine große Vernachlässigung aus.
Günther Lorenz erklärt mir, dass in den Plattenbauten meist nur vereinzelte ältere Bewohner und Bewohnerinnen lebten, deren tägliche Bedarfe derzeit nur unzureichend gedeckt würden. Mit einer nachbarschaftlichen Serviceagentur solle eine funktionierende und strukturierte Nachbarschaftshilfe entstehen. Gleichzeitig sollen im Rahmen der Agentur niedrigschwellige ehrenamtliche Beschäftigungsfelder entstehen, in denen es vor allem arbeitslosen Menschen möglich werde, sich zu engagieren und darüber einen Zugang zu regelmäßiger Beschäftigung geschaffen werde. Obwohl es einen großen nachbarschaftlichen Bedarf an Hilfsleistungen in Hohenstücken gäbe, sei es schwierig, den Zugang zu den hilfsbedürftigen Menschen und deren individuellen Bedürfnissen zu bekommen. Ältere Menschen, die es gewohnt seien, sich selbst zu versorgen, falle es häufig schwer, sich einzugestehen, dass sie auf die Unterstützung anderer angewiesen seien. Diesem Problem möchte die Serviceagentur mit einem sozialen Marketing begegnen, d.h. es sollen formelle Kooperationsbeziehungen zwischen den sozialen Akteuren aufgebaut werden, um dadurch Vertrauen aufzubauen und Kontinuität sowie Zuverlässigkeit in den Angeboten zu schaffen.

Die Mitglieder des Vereins Arbeiten und Wohlfühlen in Hohenstücken e.V. im Stadtteilcafé Miteinander.
Ich nehme Kontakt mit Luca Valmassoi von der Sozialgenossenschaft Cadore SCS auf und schildere ihm die Sachlage in Hohenstücken. Was könnte er Günther zeigen, welche Problemstellungen werden sich dabei überschneiden. Auf den ersten Blick erscheint Hohenstücken und das Cadore ja ziemlich unterschiedlich zu sein und so sind die Erwartungen an den Besuch bei Günther anfangs etwas verhalten. Doch nach ein paar Tagen meldet sich Luca bei mir mit einem vielversprechenden Programm und wir fahren am 19. Mai für drei Tage ins Cadore.
Links: Hohenstücken - Rechts: Valle di Cadore
Die Sozialgenossenschaft Cadore SCS wurde 2008 gegründet und ging aus dem Zusammenbruch der Brillenindustrie im Gebiet hervor. Die Brillenindustrie gestaltete mehr als 100 Jahre die Ökonomie in der Region - als Gründer dieser Erfolgsgeschichte wird Angelo Frescura aus Rizzios genannt und die ganze Geschichte wird in dem sehenswerten Brillenmuseum in Pieve di Cadore erzählt. In Rizzios - einem Dorf, in dem es noch ursprüngliche Häuser in Holzbauweise zu finden gibt, erinnert eine Gedenktafel an den erfindungsreichen Unternehmer.

Malerische Häuser im Holzbauweise zieren den Geburtsort von Angelo Frescura
Mit dem Niedergang der Brillenindustrie ging zusätzlich noch eine Konsumgenossenschaft zu Grunde und so ergab sich eine große scheinbar ausweglose Misere auf dem Arbeitsmarkt in der Region. Matteo Toscani, der jetzige Präsident der Cadore SCS erzählt uns, dass er damals Bürgermeister von Valle die Cadore war und so zusammen mit Claudio Agnoli die Idee hatte, mit einer sozialen Genossenschaft neue Arbeitsplätze zu schaffen. Der Plan ging auf, denn die Sozialgenossenschaft Cadore beschäftigt heute - je nach Saison - zwischen 200 und 300 Personen - und nach Satzung einer sozialen Genossenschaft bestehen 30% der Belegschaft aus Menschen, die auf Grund von körperlichen oder psychischen Besonderheiten auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Arbeitsplatz gefunden hätten. Das Besondere an der Sozialgenossenschaft Cadore ist aber, dass die Gemeinden selbst Mitlgieder der Genossenschaft sind und somit ist die Genossenschaft im Gemeinwesen verankert, d.h. die Gemeinden haben ein direktes Interesse, dass die Genossenschaft funktioniert. Ausgehend davon, dass weder die Konkurrenzwirtschaft noch der Staat alle Mittel bereit stellen, die in der Region benötigt werden, verfolgt die Kooperative die Zielsetzung der lokalen Ökonomie. Abseits von einer Ökonomie der Skalierung geht es hier um die Qualität der Produkte in ganz verschiedenen Sektoren. Die Genossenschaft ist momentan auf dem Reinigunssektor, der Forstwirtschaft, des Caterings, Tourismus und im Anbebot verschiedener gemeinwohlnahen Dienstleistungen beschäftigt und ihre Stärke besteht in der Diversität ihrer Aktivitäten und der Partnerschaft mit dem öffentlichen sowie privaten Sektor.

Matteo Toscani, 2.v.rechts, heiratet in Palermo. Mit dabei Claudio Agnoli, rechts.

Besonders in der Einbeziehung der Gemeinden in die Genossenschaft sieht  Günther ein Potential, von dem er sich für seinen Stadteilbetrieb in Hohenstücken viel versprechen würde.

Die Genossenschaft feierte letzes Jahr ihr zehnjähriges Jubiläum, Matteo Toscani hat erst vor wenigen Monaten die Präsidentschaft der Genossenschaft übernommen und steht nun vor der Herausforderung das Fortbestehen der Genossenschaft zu sichern. Matteo resümiert, die Genossenschaft müsse sich jetzt strukturell erneuern und neue Inverstitionen tätigen, um weiterhin erfolgreich wirtschaften zu können. Die letzten Jahre seien zu gut gewesen und so wurde die Weiterentwicklung verschlafen. Ein Versäumnis, das sich nun langsam im Verschwinden der bislang gebildeten Rücklagen bemerkbar mache. Die Offenheit ist für mich bemerkenswert, aber auch das ist eine Stärke der sozialen Genossenschaft: Die Geschichte wird in einer Gemeinschaft entwickelt, um dabei immer wieder auf neue Möglichkeiten der Innovation zu entdecken - sebst wenn man sich dabei manchmal nicht im besten Licht darstellen kann.


Video zum 10jährigen Jubiläum




Anmerkungen

  • [1] aus: bisher unveröffentlichter Unternehmensenticklungsplan vom 19.07.19, Günther Lorenz
Powered by Blogger.