Hier geht es weiter mit Lydia Karstadts Kurzgeschichte "Sterne über dem Tal". Der Erzähler ist mittlerweile erwachsen geworden und besucht nur noch gelegentlich den vertrauten Ort seiner Jugend - nicht ohne Roberto und Barbara zu besuchen. Dabei entwickelt sich neben der eigenen Lebensgeschichte gleichzeitig die Geschichte der Familie Picaldo - bis beide Erzählungen in einem Punkt zusammenfallen: Hier heißt es nun das Cadore verstehen.

Sterne über dem Tal (2/2)

In den neunziger Jahren zeigte Roberto mir immer wieder die alten Bilder. Ich lebte nun in der Stadt. Wenn ich meine Eltern im Sommer besuchte, ging ich eigentlich jeden Tag ins Café. Für diese kurze Zeit im Jahr gehörten wir zusammen. Wann würde Roberto mir auch weiter von Wien erzählen? Als ob er nur darauf gewartet habe, das ich zu meiner Frage ansetzen würde, fing Roberto an zu sprechen: In jenem ersten Sommer in Wien erzielten die beiden unglaubliche Umsätze und als Rosa den ersten mit Geld voll gestopften Brief erhielt, ließ sie sich wirklich umstimmen. Sie erlaubte einen verlängerten Aufenthalt des Jungen bis zum Ende der Ferien. Rosa schickte nun auch die Kräuter und den Waldmeister an die Bäckerei Kluth. Immer mit langen Briefen und Liedtexten für Roberto. Als dann auch Beppos Bruch verheilte und er wieder einigermaßen laufen konnte und einsatzfähig war, blühte das Geschäft vollends auf. Hatten die beiden so unterschiedlich alten Gelatieri vorher täglich nur eine begrenzte Menge Eiscreme zum Verkauf, so konnten sie nun, durch Arbeitsteilung mit Beppos Hilfe, bei größerer Nachfrage liefern. Robertino rannte wie ein Wiesel von der Bäckerei zum Wagen, die Eiscreme in Schüsseln, die Waffeln im Karton im Leinensack geschultert. Im folgenden Sommer wiederholten nun die drei ihre Erfolgsgeschichte und im dritten Sommer fuhren sie sogar mit dem Automobil nach Wien.
Roberto holte tief Luft und erzählte mir, bei einem seiner Wege nun, passierte ein Unglück und er lief auf einer stark befahrenen Kreuzung in ein Fahrrad und stürzte. Er fiel unglücklich und verletzte sich den Kopf. Damit war schließlich seine wunderbare Zeit in Österreich vorbei. Rosa kam mit dem Zug nach Wien und holte ihn ab. Erst in Italien diagnostizierte der Arzt, Roberto habe eine Gehirnerschütterung und so musste er die restlichen zehn Ferientage im Ospedale in Cortina bleiben. Diese Tage, in denen Roberto still im Bett liegen sollte, waren eine Qual für ihn. Er weinte vor Wut, da er nicht ins Tal und auch nicht zurück zum Opa konnte. Im folgenden Sommer blieb Rosa hart. Roberto durfte nicht mehr mit Pico und Beppo mitfahren. Im darauf folgenden Jahr mieteten die Brüder nun ohnehin einen Laden in Deutschland. Auch sie spürten wohl, das sich die glorreichen Sommer in Wien nicht wiederholen ließen. Roberto brach die Schule ab, halbherzig machte er eine Lehre als Schuster und flüchtete schließlich in die Stadt. Er verirrte sich in seinem eigenen Leben, so nannte er es schmunzelnd. Jahre später, als er zurück kam, übernahm er Nonnos Erbe und führte bald die Eistradition der Picaldos weiter. Er traf Barbara, gerade als sein Leben sich in die richtige Richtung drehte, wie Roberto es ausdrückte und lächelte. Manchmal wenn er dabei gerade noch die glatte Marmorfläche eines Cafétisches abwischte, umarmte und drückte er sie, wie zur Bekräftigung seiner Worte, zärtlich an sich. Zusammen renovierten die beiden das alte Haus, auf dem Hügel, indem sie nun mit Mama Rosa wohnten.
Nie war ich den wiederholten Einladungen der beiden gefolgt, mein Leben hatte mich plötzlich fest im Griff, es hatte mich unmerklich gepackt und durch seine Gewohnheiten und Verwicklungen fühlte ich mich unfrei, gebunden und auch unglücklich. Aber das gestand ich mir nicht ein. Roberto hatte mich nicht befragt, nie ist er in mich gedrungen und wollte das ich mich ihm öffne. Doch einmal schaute er mich lange an und lächelte sein schelmisches trauriges Lächeln. Dann sagte er: „Caro mio, du sollst nicht grübeln! Schau was das Leben mit Dir macht! Du brauchst Bergluft und die Farbe Grün!“ Ich sagte: „Ja, ok, klar, ich komme.“ und versprach sobald ins Cadore zu kommen wie es mir nur eben möglich war. „Aber! Vorerst bestelle ich drei grüne Martini Cocktails!“ Vorerst klingt ernst!“ antwortete Barbara trocken. Wir lachten uns kaputt und tranken zusammen. Beim Abschied hatte ich das Gefühl Roberto und Barbara umarmten mich besonders liebevoll. Im Sommer '96 dann, konnte ich durch meine Arbeit erst spät gegen Ende des Sommers meinen jährlichen Besuch machen. Als ich zum Eissalon gelangte, sah ich Barbara in einem schwarzen halblangen Kleid aus der Aluminiumtür des Bramosia treten und es brach mir das Herz. Ich war zu spät.
In diesem Jahr kehrte ich nicht in die Stadt zurück, sondern durchbrach alle meine Pläne und fuhr mit ihr ins Cadore. Die Bilder dieser Reise sind für mich, wie die einer Rückkehr, sie haben mich verändert, handeln sie doch von Ankunft. Ich brachte einen Strauß Pfefferminze an Robertos Grab, den ich auf dem Weg am Bach gepflückt hatte. Ich weiß nicht mehr wie lange ich dort saß. Erst mal blieb ich im Dorf, um Picos Welt noch besser kennenzulernen. Alles war so fremd und doch, durch ihn vertraut. Ich atmete die köstliche Bergluft von der er immer sprach. Es war so als ginge ich durch eine Welt seiner Beschreibungen. Ich begann wieder wild zu träumen, von Lupo, er erzählte mir die Geschichte aus seiner Sicht. Er stand auf einer Lichtung mit dem ersten Eiswagen und wartete auf mich, nach einer Weile kam der kleine Roberto zu unserer angeregten Unterhaltung dazu. Irgendwie war es der Kleine und der Große in einer Person. In meiner Trauer um ihn, stand er mir bei und erzählte mir Witze.
Ich traf Rosa, die mich ebenfalls nur von Erzählungen kannte. Sie wohnte oben im Haus. Tagein, tagaus war sie im Garten. Häufig wurde es beim Essen Gespräch, Rosa solle endlich ins Erdgeschoss umziehen, um spät abends nicht mehr die Stufen, der großen schweren Holztreppe steigen zu müssen. Am Nachmittag saßen wir häufig schweigend auf dem Hügel im Halbschatten des Hauses und tranken Kaffee. Abends saßen wir immer bis zum Sternenaufgang draußen. Ich bin mir sicher, wir dachten dann auch fast immer an Roberto. Ich habe Rosa nie vor 23 Uhr nach oben gehen sehen. Läutete spät abends das Telefon dann ging Rosa weg und war nicht auffindbar. Barbara suchte sie dann manchmal überall. Morgens wenn ich aufwachte, war sie bereits unten und jätete im Garten. Gleich am ersten Abend wurde ich Zeuge des „Enrosadira“. Rosa sagte es zu mir: „Enrosadira!“ als es passierte. Wenige Minuten nach Sonnenuntergang, als das Tal im Dunkel der Schatten versank, leuchtete plötzlich das Gestein der Felsen hell und schimmernd über uns. Ich hatte das Gefühl wir würden für diesen Moment nicht atmen müssen. Ich sah in das schimmernde Licht über der schwarzgrünen Tallandschaft, meine Wangen wurden heiß und ich spürte feuchte und leichte Tränen, wie die Traurigkeit anderer, die sich in diesem Moment in mir aufhob und mich frei ließ.
Roberto, der sonst ständig mit Wiederholungen, Schleifen und Ergänzungen in seinen Geschichten aufwartete, hatte überhaupt nur einmal von seinem Heimweh, als Junge in Wien gesprochen. Beim zweiten Mal sprach er ausführlicher über jenen Abend, den er mir vor Jahren geschildert hatte. Robertos Stimme wirkte seltsam brüchig als er es erzählte und ich muss immer wieder daran denken. Nonno hatte ihn damals in der braunen Wolldecke, zusammengerollt wie ein Igel, beim Weinen gefunden. Er rollte ihn aus dem Bündel, nahm ihn in den Arm und erzählte ihm die Geschichte von Cato dem Waldkater. Diese Geschichte hatte er selbst von Raffaela in dem Kinderheim gehört, in dem er zusammen mit Beppo in den Sommermonaten leben musste, wenn ihre Eltern in Österreich „Gefrorenes“ verkauften. Cato der Katzenvater jedenfalls, verging fast jedes Mal vor Sehnsucht in der Adria, nach seinen bunt gescheckten Katzenkindern. Eines Tages schickte er von einer seiner Fahrten jedem Kind einen Brief. Darin eröffnete er ihnen, er habe nun ein ganz einfaches Mittel gegen Heimweh, das sogenannte Bramosia Verfahren, gefunden. Sie müssten nur noch ihren Stern über dem Tal finden. Wenn er, auf See und die Kinder im Tal, diese Sterne betrachteten, wären sie miteinander verbunden und wüssten genau, was der jeweils andere fühle. Ja sie könnten auf diesem Wege sogar kleine Botschaften und Nachrichten schicken, wenn sie beim Anblick des Sterns nur fest daran dächten. Um diesen Stern zu finden, gibt es eine ganz einfache plausible Methode. Pico erzählte - in Catos Briefen stand sie in schräg gestellten Schönschriftbuchstaben geschrieben: Stell dich gegenüber den Bergen, mit beiden Beinen sicher unter das Himmelszelt, strecke deine Arme einmal weit zum Himmel, und lass dann die Arme sinken. Leg die Hände auf deine Augen, aber schließe sie nicht. Drehe dich dreimal rechts und fünfmal links um die eigene Achse und fasse dich dann an den Zehen. Komm wieder hoch, Mache einen Ausfallschritt und blicke nach oben. Der, der, dir jetzt ins Auge blitzt, das ist der Stern, zu dem du schauen sollst!
Lydia Karstadt, Berlin 2017
Lust auf "Sterne über dem Tal" als E-book? Hier gibt es die Geschichte in den unterschiedlichen Formaten zum Download:
Mit ihrer Kurzgeschichte "Sterne über dem Tal" gewinnt Lydia Karstadt den Wettberb "Wer hat die besten Geschichten über das Cadore". Die Geschichte beginnt in den Achtzigerjahren in einem kleinen Ort in Deutschland mit der entstehenden Freundschaft des Erzählers und der Eismacherfalmilie Picaldo aus dem Cadore. Die Eiscafés haben zu jener Zeit nicht einfach nur Eis verkauft, sondern sie brachten die Farben, Gerüche und Geschmäcke des Sommers und der Leichtigkeit über die Alpen in den grauen deutschen Alltag. Cappucino, Stracciatella und Spaghettieis hatten noch diese exotische Nuance und versprachen für einen Moment das utopische süße 'Dolce fa niente'. Nur wenige haben damals mehr in diesen Begegnungen gesehen, und in der folgenden Geschichte in zwei Teilen gibt es einen tiefen Einblick in die Beweggründe, die das Eis aus dem Cadore zu uns gebracht haben.
Lest nun den ersten Teil der Geschichte, mit der Lydia Karstadt in ihrer eigenen einfühlsamen Weise die Juroren und Jurorinnen des Wettbewerbs überzeugen konnte!

Sterne über dem Tal (1/2)

Ich höre das gleichmäßige Rauschen des Baches, die Geräusche der sich auf der Bergstraße entfernenden Autos der Freunde, die aufbrechen. Die Grüße und kurzen herzlichen Anreden, die Verabschiedungen und Umarmungen der Nachbarn, dazu die Lieder der Vögel in den Bäumen. Ich liege auf dem Rücken...Shavasana. Das Gras unter mir ist noch leicht feucht vom Morgentau. Er wird sich in der nächsten halben Stunde durch die Kraft der Sonne auflösen. Schaue ich wie jetzt geradewegs über mich, sehe ich ein Panorama, einzig angefüllt mit der Farbe Blau. Panorama Blau. Ich sage immer, Ives Klein muss dieses Blau gesehen haben und dann hat er seine berühmten blauen Bilder gemalt. Bewege ich meinen Kopf nur ein kleines Stück dann sehe ich sie in den Augenwinkeln. Die Mächtigen, Ewigen, die Begleiter dieser taugrünen Welt, in deren Gegenwart ich mich sicher und geborgen fühle. Man kann und soll sie auch aus der Ferne lieben, man muss sie nicht bezwingen, denke ich dann. Die Dolomiten. Sie sind wie die Fingerkuppen einer großen Hand die uns trägt, hier im Tal. Dann schaue ich wieder in das unendliche Blau, in die satte Sphäre. Sie sind genau hier im Cadore, auch aus einem Stoff gemacht, das Blau, das Grün des Grases unter mir und in der Weite, die hellen großen, noch mit Schnee bedeckten Anhöhen der schützenden Berge. Bald werden auf den hohen Wiesen die Lilien und Habichtskräuter und in den Höhen die Felsenkräuter blühen. Lange bevor ich überhaupt das Wort zum ersten Mal hörte, war ich dem Cadore eigentlich schon verbunden. Es war mir ungeahnt nah. Mein Weg führte mich schließlich hierher. Wenn ich jetzt die Augen schließe, sehe ich die Bilder und Ereignisse der ersten Fahrt hierher, den Bergpass, die vorbeiziehenden Himmel und wieder der Kalkstein der Felsen, den die Italiener hier auch die drei Zinnen auf dem Himmelsdachstuhl nennen. Die köstliche blaue Luft. Je nach Verlauf des geschlungenen Weges änderte sich die Perspektive und Richtung zu den hellen Bergen und mein Herz wurde von einer leisen, rasenden Aufregung gefangen. Denke ich daran, kann ich die Erregung spüren und dann fühle ich einen leichten Schmerz, der dem meiner ersten Liebe gleich ist. All das begann, in den Achtzigerjahren in meiner Jugend. Ich träumte damals nachts vieles wirres Zeug, in dieser behäbigen, deutschen Kleinstadt, aus der ich zu gern geflohen wäre und dann eben auch von einer weiten wunderbar grünen, phantastischen Landschaft. Meine Träume waren im Grunde nächtliche Exkursionen, die meinem brennenden Fernweh oder den ausufernden Geschichten von Roberto geschuldet waren – wahrscheinlich einer gut gerührten Mischung daraus. Ganz so wie Barbaras sagenhafte Martini Cocktails. Roberto und Barbara übernahmen 1986 das Eiscafé in unserem kleinen Ort. Das Café wurde halbjährlich betrieben und wechselte sich anfangs in der Winterzeit absurderweise mit einer chemischen Reinigung ab. Von März bis September herrschten dann die Italiener. Im März '86 bezogen Roberto und Barbara zum ersten Mal ihre Sommerresidenz und es wurde gleich klar, hier war eigenwilliger Geschmack, angstlose Farbe, kurz das blühende Leben angekommen. Über die kleine Lautsprecheranlage lief schwärmerische, sentimentale italienische Musik. Ich erinnere Filmmusik aus Fellinis: Die Nächte der Cabiria oder Tino Rossis phlegmatischen, wunderbaren Tenor. Barbara war stets beschäftigt, hinter dem neuen blitzenden Glastresen stapelte sie Waffeln, bereitete die Becher und Schalen mit Robertos Eiskreationen und wechselte die Schallplatten. Alle Eissorten waren handgemacht und ohne künstliche Zusatzstoffe. Eine Erdbeereistorte mit Löffelbiskuit, dazu italienischen Kaffee. Zum Espresso gab es manchmal einen kleinen Martini. Niemand von uns hatte jemals solchen Kaffee getrunken, geschweige denn Alkohol der lecker schmeckte. Roberto lud uns ein, Ronnie, Martina und mich, unsere kleine Freundschaftstruppe, die aber nicht lange währte. Mit aufgestellten Ohren lauschten wir Robertos ausufernden Geschichten, von seiner ersten Zeit in Deutschland und vom Großvater Guiseppe Picaldo, der von allen kurz Pico genannt wurde und das Eismachen von seiner Familie im Zoldotal gelernt hatte. Im diesem ersten Sommer im Café Bramosia gingen wir immer zu dritt. Wir liebten das Spaghettieis und teilten uns oft den Kaffee. Im nächsten Jahr traute ich mich auch schon alleine zu meinen italienischen Freunden. Roberto sagte: „Caro mio,wie geht’s? Möchtest Du einen Kaffee?“ Ich sprach eigentlich wenig, er verstand mich auch so. Ohne eine Antwort abzuwarten, bot er mir einen Platz an seinem Tisch. Wenn ich ins Bramosia kam, erzählte er mir immer von Opa Pico und Rosas Garten. Nach dem Tod seines Sohnes Manuel, zog Pico vom Zoldotal zu Rosa ins Cadore. Natürlich erntete er die beste Pfefferminze im ganzen Tal für das beste Pfefferminzeis Italiens. Seine Pefferminz-Stracciatella! Einfach köstlich! Buonissimo! Laut seinen Schilderungen reichte deren Ruf bis nach Venedig. Robertos Vater Manuel war im Krieg umgekommen, mehr habe ich über seinen Tod nicht erfahren. Roberto beschrieb mir Pico, als einen großen, herzlichen Mann, im grau karierten Anzug, mit warmherzigen gewitzten Augen und einem stets penibel getrimmten Schnurrbart. Auf eine alten Foto steht er hinter Rosa, seiner Schwiegertochter und dem kleinen Roberto, beiden die Hände schützend auf die Schultern legend. Roberto liebte die Ausflüge mit seinem Opa. Sie packten die Satteltaschen von Lupo, dem Esel und folgten dem hügeligen Weg entlang des Flusses zum Markt. So konnte Opa ihn auch an den Markttagen auf seinem Weg zur Schule begleiten. Lupo war ein kräftiges Tier und zog gut gelaunt den Eiswagen, den Großvater Picaldo mit Hilfe von Enzo dem Tischler gebaut hatte. Roberto half ihm und durfte schließlich die Buchstaben ihres ersten rollenden Eissalons mit cremefarbenem Lack ausmalen. Der Wagen war eine Auftragsarbeit für Picos Bruder Beppo, der schon nach Wien aufgebrochen war, um seinen Gewerbeschein für den Handel von Eiscreme zu erhalten. Pico würde den Wagen mit Lupos Unterstützung nach Wien bringen, so war es zwischen den Brüdern abgesprochen. Nach langem Geschrei und Streit willigte Rosa, Robertos Mutter schließlich ein, dass Roberto seinen Großvater auf dieser abenteuerlichen Reise, einem gewaltigen Fußmarsch mit Esel und einer anschließenden mehrstündigen Zugfahrt begleiten durfte. „Basta, cosi!“ Der Streit endete wie immer im Hause Picaldo mit einem allgemeinen Lachanfall darüber, wie unsinnig es sei, sich überhaupt im Leben aufzuregen. In diesem Fall ging es ja nur um ein paar Tage. Pico und Roberto gaben Rosa einen Kuss und alles war in Butter. Die beiden fühlten sich wie Don Quijote und Sancho Pansa und Lupolino war ihre Rosinante. Pico erzählte wie immer unterwegs haarsträubende Geschichten von sprechenden Eseln und zwinkerte Lupo dabei zu….. aber er behandelte Roberto, dann auch ganz wie seinen gleichberechtigten Kompagnon. „Sollen wir hier eine Polenta essen? Was meinst du, Roberto?“
Mit dem Zug durch die Dolomiten, Quelle - Manfred Kirschner
An der Bahnstation nahmen sie Abschied von Lupo, der erst mal beim Bahnwärter Unterschlupf bekam. Schließlich würden die beiden Abenteurer nicht lange fort sein. Als sie jedoch in Wien eintrafen, fanden sie Beppo, auf den Hinweis seiner Zimmerwirtin, im Zentralkrankenhaus. Beppo war ausgerechnet auf einer zertretenen Eiswaffel auf dem Trottoir ausgerutscht und hatte sich das Bein gebrochen. Also frisierte sich Pico die Haare mit einer Tolle wie sein jüngerer Bruder, steckte dessen Gewerbeschein in sein grau kariertes Jackett mit den Ellbogenschonern und begann noch am selben Abend mit der Arbeit. Die Rechnung vom Krankenhaus und ihre Unterkunft sollten zumindest bezahlt sein, wenn sie abreisten, so war der Plan. Rosa schnaufte vor Wut am Telefon. Erst hörte sie sich die ganze Geschichte von Roberto an, der den Hörer gehorsam an Opa weitergab, als dieser dann zum Sprechen ansetzen wollte, schrie sie in den Apparat, ob er von allen guten Geistern verlassen sei? Noch zwei Wochen und keinen Tag mehr, solange könne er ihr Kind entführen. Pico mußte beim Andenken seines Sohnes Manuel, schwören, ihren Sohn wohlgenährt und gesund ins Tal zurückzubringen. Nun, einmal wöchentlich, dienstags abends vor dem Schlafengehen um 22:30 hatte Roberto sich verpflichtet beim Gemüsehändler Enzo anzurufen, um Meldung zu machen und Mama zu beruhigen. Die Telefonnummer trug er auf einer zerknitterten Heiligenpostkarte, mit der Madonna in seiner Umhängetasche bei sich. Roberto lächelte und deutete auf einen silbernen Rahmen gleich neben dem Spiegelregal mit den Eisbechern, darin war eine ausgeblichene, eisfarbene Madonnenabildung zwischen deren ausgebreiteten, segnenden Händen, Mamma Rosas Telefonnummer – beziehungsweise, besser Onkel Enzos Gemüseladen-Telefonnummer, in königsblauer Tinte prangte. Roberto lächelte ironisch und ich gewann den Eindruck, dieses Dokument, sei im Grunde sein wirkliches Diploma Gelatieri. Roberto stieß eine Portion Rauch aus und erzählte ziemlich laut weiter. Vor dem Bramosia waren die Stammgäste vom heimischen Motorradclub mit ihren Maschinen angekommen. Bis wenig später die Motorengeräusche erloschen, musste man noch dagegen anschreien. Etwas abwesend wanderte mein Blick zur Versammlung auf dem Glasregal. Eine Ballerina im lachsfarbenem Tutu wiegte sich graziös einem Gondoliere samt Liebespaar zu, der ebenso ernsthaft und anmutig zwischen den Eisbechern schipperte. Unsere beiden Eismacher standen anfangs zumeist am Viktualienmarkt oder auf den vielen Plätzen der Stadt wie dem zentralen Stephansplatz. Sie verkauften ihr Eis auch in den Straßen der unmittelbaren Umgebung davon. Donna Grubner kaufte immer drei Kugeln von dem ganz dunklen Schokoladeneis welches fast so dunkel war, wie die Tasten auf ihrem Piano. Roberto durfte sie einmal bei einem Besuch bei ihr ausprobieren. Die Männer nickten alle zehn Sekunden zu den Ausführungen der Dame, tranken brav ihren Kaffee oder die heiße Schokolade (Roberto) mit Schlagobers aus den Porzellantassen und fürchteten sich, einen Fleck auf der geklöppelten Spitzendecke zu hinterlassen. Roberto wäre da gern eine Meerkatze gewesen, hätte den Kanarienvogel fliegen lassen, das Schlagobers auf den arabischen Teppich gepustet und wäre über die Tasten des Klaviers zum Fenster raus spaziert. Er imitierte den Wiener Ton nach Picos Beispiel und sprach: „Gnäädigstä, daaarf ich Ihnen nocha Kogeln gehm ?“ Das Geschäft lief gut, denn die Wiener liebten das italienische Eis. Und es waren noch einige andere Eisverkäufer aus dem Zoldo unterwegs, denn der exzeptionelle Geschmack hatte schon seine eigene Tradition.
Quelle - Manfred Kirschner
Nach dem ersten Weltkrieg, der die Österreicher und Italiener für seine unerträgliche Dauer zu Feinden gemacht hatte, bestanden durch familiäre Bindungen untereinander noch zwei der Eisgeschäfte für „Gefrorenes“. So nannten sie die ersten Eisläden. Durch ihre schnelle Neueröffnung, lief das Geschäft wieder an und so war es den Gelatieri in Wien auch nach dem zweiten Weltkrieg möglich, an etwas Begonnenes und Bewährtes anzuknüpfen und ihr gewohntes Leben zurückzugewinnen. Solange Beppo krank war, hatten sie ihren festen Ablauf. Montags kauften die beiden frische Milch und Eier auf dem Bauernhof und besuchten einen entfernten Vetter von Lupo. Das erinnerte Roberto natürlich an Zuhause, deshalb waren die Montagabende schwierig. Dienstag abends wurde Eis gemacht und telefoniert, deshalb waren die Dienstagnächte schwierig…. Das Eis bereitete Pico mit der elektrischen Maschine in der Bäckerei Kluth. Er hatte von Beppo eine Bedienungsanleitung, die dieser auf ein Briefkuvert gezeichnet hatte, denn Pico hatte Respekt vor dem elektrischen Ding. Mir schien, es gab eine gewisse Tradition fürs Zettelschreiben in der Familie Picaldo. Die Brüder hatten das Eismachen im Zoldo Tal noch in alter Methode, mit Eisbruch aus den Bergen und Salz, in einem, mit einer metallenen Eiskammer bestückten Eichenfass mit Kurbel, erlernt. Doch auch Picos elektrisches Eis in Österreich, erlangte schnell einen Sonderstatus. Wahrscheinlich war es seine köstliche Minze oder die besondere Sorgfalt und Qualität der Zutaten, das Geheimnis des Früchtebechers, oder der mit dem lächelnden Esel bemalte Eiswagen. Vielleicht war es einfach alles zusammen, was dem generationsübergreifenden Unternehmen einen sagenhaften Erfolg bescherte. Nach einer Woche rasselte es schwer in der Caramella Dose, die voll von Papiergeld, Schillingen und Groschen von Roberto geschüttelt, kaum noch musikalisch klang. Bald waren alle Schulden beglichen. Der kleine Roberto zeigte vollen Einsatz beim Verkauf und der Warenbeschaffung. Ein ständiges Problem war die Vanille. Es war nahezu unmöglich an gute, echte Vanille zu kommen. Aber Robertinos Mut und Charme überzeugten auch den geizigsten, verschrobensten Kolonialwarenhändler, einmal über seine Brille zu schauen, eine ganz bestimmte seiner unzähligen Schubladen zu öffnen und die schwarz glänzenden Schoten auf den Ladentisch zu stürzen. Pico zeigte ihm alle Tricks und Kniffe und so erhielt er schon mit 10 Jahren von Nonno Pico das Pfefferminz Geheimrezept und türmte die Kugeln tänzerisch in die goldgelben Waffeltüten. Ihm lag das Eisverkaufen und er war erfindungsreich und talentiert. Manchmal aber an den schwierigen Abenden, packte den kleinen Robertino eine Schwermut und er wurde ganz still und wirkte dann noch erwachsener, als er es ohnehin schien. Er vergrub sich in Mamma Rosas dicke braune Wolldecke, damit Nonno es nicht sah und dachte sich ganz intensiv nach Hause ins Tal. Er dachte an Schneeflocken die auf dem Weg zum Grund in der Bergluft verschwanden. Er sah Lupo vor sich, wie er ruft und mit ihm auf dem Rücken ein paar Schritte rückwärts tanzte. Und er sah Mama, ohne ihre geblümte Gartenschürze, in einem hellgrünen Kleid …. zusammen mit Pappa vor dem Haus. Roberto machte eine Pause. Ich schabte mit dem langstieligen Löffel die letzten flüssigen Reste aus dem Becher in meinen Mund, doch mir entging dabei nicht sein Gefühl, angesichts seiner Offenheit. Vielleicht war es meine Zurückhaltung als aufmerksamer Zuhörer, die Roberto so schätzte oder meine unparteiische Loyalität, da ich alles ungefragt in mir aufnahm und ebenso sicher verwahrte. Für diesen Abend war es genug der alten Geschichten, Roberto sprang auf und half seiner stets gut gelaunten Barbara, die neu ankommenden Gäste zu begrüßen. Ich ging ins Café und hing an Robertos Lippen und im folgenden Sommer hörte ich die Geschichte erneut. Jetzt nahm ich die von Barbara mit einem Grinsen angebotene Zigarette offiziell an, hatte ich doch vordem mit meiner schon vergessenen Clique, hinter dem Salon heimlich und verschämt gepafft. Ich war gespannt, fieberte auf die Fortsetzung der Erzählung. Mit den Jahren und meinen Besuchen im Bramosia wuchs sie, die der anderen und auch Rosas Geschichte. Zu jener Zeit dachte ich niemals daran, wohin mein eigener Weg mich führen würde oder wo ich hingehörte. Niemals brachte ich mein Leben mit in den Salon oder sprach kaum über irgendetwas Persönliches. Trotzdem schien es, das Barbara hinter ihrer silbernen, glänzenden Brille wissend lächelte und dabei Roberto einen eingeschworenen Blick zuwarf.
Das war der erste Teil der Kurzgeschichte von Lyia Karstadt. Wie geht es weiter? Verpasst nicht das Ende der Geschichte im nächsten Post und begleitet den Erzähler und die Familie Picaldo durch die Zeit, in der die einstigen Entfernungen in einem Punkt zusammenfallen.
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