EINE ARCHÄOLOGIE DER ZUKUNFT

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Buchstaben der Elektrifizierung im Cadore.

Zuweilen ist es für Reisende lohnend, den im Allgemeinen nur automatisch absolvierten Teil einer Reise, bei dem der bereiste Ort beständig anhand seiner Beschriftung für einen unmittelbaren Gebrauch entziffert wird, für einen Moment diesem Automatismus zu entwinden und sich bewusst auf einen Gang entlang der Beschriftungen eines Ortes zu begeben. Man wird dann nicht nur einem zuvor vielleicht kaum bemerkten Reichtum und einer Vielfalt an Material und seinem historischen wie aktuellen Gebrauch begegnen, mit etwas Glück verwandeln sich Buchstabenreisen anhand der Spuren aus älterer Zeit zu einer gelingenden Archäologie der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte eines Ortes.
Während es der Archäologie als einer sehr alten Disziplin an sich recht leicht fällt, weit verstreute kleinste Objekt-Bruchstücke als Zeugen zu einem Bild zusammenzusetzen, das in der Regel die Vergangenheit sichtbar werden lässt, hat es die Beschriftungsforschung einerseits etwas schwerer, solche Bilder in den disparatest angebrachten Schriftzeichen aller Zeiten und wiederbelebten Zeiten in den Palimpsesten der unterschiedlichsten Orte / Fundstellen eines Ortes erkennbar zu machen.  Das Cadore bietet jenen glücklichen Fall, dass hinter kaum mehr erkennbaren Beschriftungen, den vielfachen Überschreibungen und mehr oder weniger deutlichen Stilen und ihren Buchstabenresten in seinen Dörfern und Ortschaften dennoch ein deutliches Bild des Ortes CADORE für eine bestimmte Zeit und vielleicht sogar darüber hinaus gezeichnet werden kann.
Der Vorteil der Beschriftungsarchäologie liegt andererseits darin, dass in den allerseltensten Fällen gegraben werden muss, sondern die Fundstücke zumeist bereits als Schriftbilder offen zutage liegen, und so findet sich gleich im kleinen Örtchen Perarolo di Cadore über der Filiale der Poste Italiane mit dem Vernehmen nach recht reduzierten Öffnungszeiten die durch Wind und Wetter bis zur Unkenntlichkeit reduzierte Beschriftung ihres Hinweisschildes.



Was dort hängt, ist wohl der typische Ausstecker der italienischen Postfilialen in einer Version aus Metall mit einer kreisrunden und einer geteilten rechteckigen gelben Fläche, auf denen 3 Ziffern und das nur mehr von leichten Verschmutzungen freigestellte O bzw. die Ziffer 0 einer abgelösten Beschriftung zu sehen sind. Während die vorhandenen Ziffern offensichtlich zum Formen-Repertoire des Art Deco gehören, deutet das verschwundene O / die von Staub umrissene 0 eher auf eine schlichte neuzeitlich Grotesk hin und es bleibt zunächst unklar, was dort in welcher Schrift gestanden haben könnte.
Nicht weit entfernt findet sich in Calalzo di Cadore eine ebenfalls bereits von Verwitterung und Aufgabe gezeichnete, aber doch recht weitgehend erhaltene Beschriftung einer Fleischerei und eines Milchladens.



Die Buchstaben der Schriftzüge sind als zweigeteilte Flächen mit einer Vertiefung zur Strichmitte hin in die steinernen Rahmenblenden der Ladenfronten gemeißelt, für die Fleischerei zweifarbig jadegrün und grau und für den Milchladen inzwischen verblassend und abblätternd einfarbig rot ausgelegt. In den Buchstaben der LATTERIA zeigt sich wieder der Anschein einer modernen Grotesk/konstruierten serifenlosen Linear-Antiqua, bei der lediglich das R eine leicht eigenwillige Form des Bogens aufweist, während die teilweise ausgewaschenen Reste der MACELLERIA erneut eindeutig dem Art Deco zugeordnet werden können.
Die vielfältigen gut erhaltenen Beschriftungen der Glasscheiben entstammen dann offensichtlich einer neueren Zeit mit eher informellen Stilvorlieben.
Jenes zwischen Moderne und Art Deco schwankende Bild vieler Beschriftungen im Cadore wiederholt sich nach kurzer Wegstrecke und wird doch in seiner Tendenz  schon etwas deutlicher bei der nächsten MACELLERIA in Valle di Cadore.



Hier ist der ziemlich gut erhaltene Schriftzug auf den Putz des Hauses gemalt, trotz der farblich und auch technisch nicht ganz gelungenen Ausstreichung des Inhabers könnte die Beschriftung sogar noch »in Gebrauch« sein – immerhin gibt es am linken Türflügel ein Öffnungszeitenschild im neuzeitlichen Parkscheibenstil.
Die Buchstaben sind wieder zweifarbig angelegt, das blasse Jadegrün ist diesmal vom Petrolblau aus nach links oben versetzt um als Effekt räumliche, aufgesetzte Buchstaben zu simulieren. Es handelt sich abgesehen vom modernen M eindeutig um Art Deco, jedoch so individuell aus der Hand eines (vermutlich lokalen) Schildermalers, dass der 3D-Effekt nicht leicht auszuführen war und beim C genauso erstaunliche Ergebnisse hervorbringt wie das folgende E in einer gewissen Undeutlichkeit verharrt, weshalb vermutlich das zweite E als unlösbar geltend gleich gar nicht zu Ende geführt wurde. Bemerkenswert sind sonst das schöne A und das eigenwillige R und eine weitere inhaltliche sowie stilistische Ambivalenz bei den Hausnummern, da die eine, nämlich jene emaillierte 73 oberhalb des Schriftzuges, direkt in eine barocke und klassizistische Vergangenheit der Beschriftungen im Cadore weist, die im Nachbarort Borca di Cadore sogleich vertieft wird.



Während an diesem Haus der durch Verwitterung oder durch Abkratzen bzw. -schlagen zum Zeichen der Aufgabe der im Laden darunter betriebenen Unternehmung fast verschwundene Schriftzug unter dem linken Fenster sicher neueren Datums war (neben der reinen Einbildung vormaliger Beschriftung sind eine dynamische Schreibschrift oder Dekorative denkbar), stammen die Ziffern, die Glocke und der Pfeil der Sonnenuhr eindeutig aus dem 19. Jahrhundert und sind dem Klassizismus zuzuordnen.
Inwieweit die vertikal gereihten Kerben links des Pfeilendes und rechts der Pfeilspitze frühere Auslegungen der Zeichnung der Uhrbeschriftung abbilden oder inzwischen unkenntlich gewordene Zusatzelemente waren oder einfach dem Zerbröseln der Hausfassade geschuldet sind, lässt sich kaum bestimmen. Eindeutig dagegen ist der aus ähnlich ferner Vergangenheit stammende Widerschein barocker Schriften und antik-alpiner dekorativer Formen in der Bemalung eines Hauses in San Vito di Cadore nur wenige Schritte talaufwärts.



Der Urahn aller Buchstabenreisenden und Umgebungs-Entzifferer ist hier in eine leicht serifenbetont interpretierte Barock-Antiqua gekleidet und samt korinthischem Kapitellframent von gemaltem Holz umgeben, um ihn mit der Bindung an die weit verbreitete ornamentale Gestaltung der Holzfassaden der älteren Häuser im oberen Cadore für wenigstens (s)einen kurzen Aufenthalt heimisch zu machen.
Wie sehr Sonnenuhren und rustikale Heimeligkeit alter Ortskerne die fast allerletzten Spuren doch einer noch länger vergangenen und hier nicht zur genaueren kulturgeschichtlichen Bestimmung anstehenden Zeichen-Zeit des Cadore gehören, wird schnell deutlich, wenn noch ein paar Schritte weiter in San Vito di Cadore wieder eine gegenwärtig genutzte Ladenbeschriftung hervortritt und um einen Besuch bittet.



Die Buchstaben sind getreu den Anforderungen an dekorative Schriften mit merkantilen Zwecken mehrfarbig und mit dem Effekt eines harten Schlagschattens gestaltet, recht frisch aufgetragen und können doch wieder ohne weiteres als dem späteren Art Deco zugehörig betrachtet werden, denn auch die Kursive für das Gründungsdatum und die Kombination mit den folkloristischen Ornamenten widersprechen nicht einer Epochenbezeichnung, die eine sehr große Vielfalt vereint und tatsächlich erst im kultur- und stilhistorischen Rückblick konkretisiert wurde.
Bezeichnend ist dabei, dass die Kriterien für die Periodisierung des Art Deco überwiegend aus Medientheorien und einer Kunst- und Kulturwissenschaft, die soziohistorisch informiert ist, stammen und eben jene große stilistische Breite für diese Epoche begründen, die sich gleich wieder bestätigt, wenn man auf dem Rückweg in Borca di Cadore zufällig in das ehemalige Feriendorf der Ölkonzerns ENI gelangt.



Die Beschriftungen des in den späten 1950er Jahren nach Plänen des Architekten Edoardo Gellner begonnenen und 1963 fertig gestellten Areals, mit Bungalows für die Urlaub machenden Firmenangestellten, einem Bereich mit zeltartigen Holzhütten für deren ältere Kinder, einer Kirche  und einem zentralen Gebäudekomplex mit Veranstaltungsräumen und der kompletten Infrastruktur für die Ganztagsbetreuung der jüngeren Kinder, ist in der bis hier hin fast typischen Cadore-Mischung aus moderner statischer Groteskschrift und Art Deco angelegt. Während die räumliche Orientierung (RS, AS) in einer für die Kunststoff-Gravur angepassten Version der Akzidenz Grotesk erfolgte, lassen sich die Buchstaben der inhaltlichen Bezeichnungen (DORMITORI) eindeutig dem Repertoire des Art Deco zuordnen. Die neueren Beschriftungen, die vermutlich aus den 1980er Jahren stammen, sind nach dem Siegeszug der Helvetica modern und doch schon wieder bewusst differenzierend in einer der dann bei Architekten sehr beliebten Normschriften ausgeführt.
Je nach Periodisierung lassen sich wenigstens zwei Zeiträume des 20. Jahrhunderts ausmachen, in denen Schriftdesign und Gestaltung allgemein als Art Deco bezeichnet werden können. Der Gesamtzeitraum reicht in nicht vom Weltkrieg heimgesuchten Ländern von den frühen 1920er bis zu den frühen 1960er Jahren. Ein schönes Zeugnis der späteren Periode ist der Widerstreit eines Art Deco-Logos aus den 1950ern mit seinem modernen, in den 1970er Jahren erstellten Nachfolger auf einer Hauswand in Valle die Cadore.



Für diesen Nachfolger musste die Höhe der gesondert aufgebrachten Wandglättung für die Bemalung vergrößert werden, damit die vom Corporate Design vorgegebenen Randabstände eingehalten werden konnten. Danach erzeugte die Verwitterung ein abwechslungsreiches Hintergrundflächenspiel unterschiedlicher Farbgebung, das an sich schon als Art Deco zu bezeichnen ist. Ähnliches geschieht dem Schriftzug – die Buchstaben sind gemäß der Größe des Unternehmens sauber und ohne Eigenwilligkeiten lokaler Schriftmaler oder Fehler ausgeführt und am Beginn des Wortes sieht man deutlich die statische Grotesk, die dann aber keine Durchhaltekraft besitzt und am Ende des Wortes den Buchstaben des Art Deco das Urteil über sich (und damit die Moderne) überlässt. Das N hat dort wieder seine Spitzen, O und A erhalten die auffällig kleinen Punzen zurück und stehen wieder auf der Grundlinie des oberen Schriftzuges; das Z tendiert in seiner Zersplitterung ebenfalls dort hin.
Diese Beharrlichkeit und zugleich kulturgeschichtliche Bedeutung des Art Deco zeigt sich dann nochmal ein paar Schritte weiter talabwärts in Tai di Cadore auf dem wohl am meisten vom Verschwinden seiner Beschriftung und der zugrunde liegenden kulturellen Entwicklung betroffenen Gebäude des gesamten Cadore.



Es handelt sich um eine Station der Bahnstrecke von Calalzo di Cadore nach Dobbiaco, die Haltestelle für das etwas abseits gelegene Nebbiu – wozu sie aber erst nachträglich, per Übermalung und Anbringung einer Ordnungszahl in einer statischen Grotesk wurde, zu einer Zeit, in der sich die Personenbeförderung als Hauptzweck der Cadore-Bahn durchsetzte. Davor und eigentlich befand sich hier der Güterbahnhof von Pieve di Cadore, dessen Schriftzug bei der oberen Zeile mit einem foliengeklebten oder digital gedruckten Schild aus jüngerer Zeit übertackert ist.
Die Buchstabenform verdankt sich dem Art Deco, hier jedoch mit einigen Details, die fast noch dem Jugendstil zugehörig sind und damit den Blick auf die historischen Daten der Errichtung und verschiedenen Umwidmungen der Bahnlinie lenken. Diese ist zunächst eine benzinmotorbetriebene Versorgungslinie im 1. Weltkrieg und erlebt Mitte der 1920er Jahre ihre Elektrifizierung, also genau in der Zeit, in der die Ära des Art Deco beginnt und die Gesamtelektrifizierung in den meisten europäischen und amerikanischen Staaten stattfindet. Der Art Deco markiert diese erste Phase der mit Strom betriebenen Beschleunigung und Ausdehnung des Welthandels, der Dezentralisierung und Liberalisierung von Gesellschaften und Märkten bei fast gesamtkunstwerkartiger Durchdringung aller Lebensbereiche mit Stilbewusstsein und weltläufiger Gestaltung.
Der Anspruch des Art Deco auf gesellschaftsweite Wirksamkeit stammt vom Jugendstil, die Mittel sind noch stärker merkantil, Kunden, Akteure und Publikum allerdings bleiben großbürgerlich oder bürgerlich (für die kleinbürgerliche Variante einschließlich der Durchdringung der Arbeitswelt mit »Stil« sorgt zeitlich versetzt das Bauhaus) und hält sich wie gesehen bis in die frühen 1960er Jahre.



In diesen späten Jahren des Art Deco, die immer noch vom Streben nach einer weltläufigen Eleganz geprägt sind, hat die Poste Italiane wohl ihre Filialschilder gestaltet, mit einer seiner wie immer besonderen und eigenwilligen Schriften und dem Schriftzug POSTA TELEGRAFO in zwei Zeilen, was in Perarolo di Cadore wahrscheinlich so aussah.



Nach der Zeit des mondänen Art Deco hat sich dann das Bauhaus durchgesetzt, das Wohnen verschwand in Schachteln, das große Kino im Fernsehen, die Bahnlinie des Cadore wurde abgerissen (immerhin gibt es auf der alten Trasse einen Radweg, also Raum für ein einigermaßen liberales Verkehrsmittel) und die allgemeine Mobilität erfolgt in wieder benzinmotorgetriebenen Blechvehikeln in minder eleganter Gestalt, mit denen sich nicht reisen (cruisen) lässt, die als reine Versorgungslinie jedem (Mit)Reisenden die fachangestellte Arbeit des Kilometermachens auflädt und Dezentralisierung im Dosenformat bedeutet. Dennoch zeigt das Bild des entschrifteten Postfilialenschildes neben der alten und ihren verschwindenden Buchstaben schon eine neue Elektrifizierung, die allerdings noch so jung ist, dass sie ihren Stil nicht gefunden hat und für sich erst lernen muss, dass Funkübertragung als Ortsbeschriftung nicht ausreicht.

Zuweilen sollten Reisen auch einfach Buchstabenreisen sein, die sich bewusst demjenigen Teil jeder Reise widmen, der uns überhaupt Orte zeigt, denn erst wer durch Beschriftungen reist, erfährt Orte, weil es die Beschriftung ist, die einen Ort von einem Nicht-Ort unterscheidet.



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2 Kommentare:

  1. Lieber Roger, wirklich vielen Dank fuer diesen Artikel. Dein Beobachtungswinkel ist wirklich was Besonderes. Bei meiner naechsten Reise ins Cadore werde ich ganz doll aufpassen, um diese Spuren wieder zu erkennen.

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  2. Lieber Roger,
    wir waren ja zusammen im Cadore und ich hab mich die ganze Zeit gefragt, was du so interessant an den Fassaden gefunden hast - aber jezt möchte ich dir nur noch sagen: Vielen Dank für deine wirklich eindrucksvolle Beobachtungen und vor allem für deren gekonnte Einordnung in einen kulturhistorischen und medinetheoretischen Diskurs. Erst jetzt wird mir klar, dass die seit Jahrzehnten verwitternden Fassaden mehr zu erzählen haben und über das bloße dekorative Moment hinausgehen.

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